Bank- und Finanzrecht

BGH zur Bestimmung des Zeitpunktes der Zahlungsunfähigkeit: Neue Methode schafft Fluch und Segen zugleich

Veröffentlicht am 3rd Nov 2022

BGH, Urt. v. 28. Juni 2022 – II ZR 112/21

Für Aufsehen und Diskussionsstoff sorgt derzeit das Urteil des für Gesellschaftsrecht zuständigen II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 28. Juni 2022 (II ZR 112/21). Danach ist es u.a. Insolvenzverwalter nunmehr möglich, nach einer weiteren Methode den Zeitpunkt der Zahlungsunfähigkeit bestimmen zu können. 

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Nach der seit 2005 geltenden ständigen Rechtsprechung des für das Insolvenzrecht zuständigen IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs (BGH, Urt. v. 24. Mai 2005 – IX ZR 123/04), ist zur Bestimmung des Insolvenzgrundes der Zahlungsunfähigkeit auf folgende Methode zurückzugreifen: 

  • Ein Unternehmen ist zahlungsunfähig, wenn es mit den zum Stichtag verfügbaren liquiden Mitteln (Aktiva I) die zum Stichtag fälligen Verbindlichkeiten (Passiva I) nicht decken kann und eine Deckungslücke von 10,0 % (oder mehr) auch nicht mit den im dreiwöchigen Prognosezeitraum zufließenden liquiden Geldmitteln (Aktiva II) bei Gegenrechnung der in diesem Zeitraum fällig werdenden Verbindlichkeiten (Passiva II) schließen kann. 
  • Bislang galt ein Unternehmen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs somit als zahlungsunfähig, wenn es nicht mindestens 90,0 % seiner Verbindlichkeiten unter Berücksichtigung der obigen Methode innerhalb des dreiwöchigen Zeitraums begleichen kann. 

Diese bisherige Rechtsprechung hat der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs nun wie folgt erweitert: 

  • Zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit ist es zusätzlich möglich, an jeweils drei Stichtagen innerhalb eines dreiwöchigen Zeitraums einen Liquiditätsstatus zu erstellen, in dem lediglich die – zu einem konkreten Stichtag verfügbaren – liquiden Mittel den fälligen Verbindlichkeiten einander gegenübergestellt werden. 
  • Ergibt sich an diesen drei Stichtagen innerhalb eines dreiwöchigen Zeitraums eine Liquiditätslücke von 10,0 % oder mehr (allein bei einer Gegenüberstellungen der Aktiva I und Passiva I), gilt das Unternehmen rückwirkend betrachtet ab dem ersten Stichtag bereits als zahlungsunfähig. 

Entscheidung

Im zugrundeliegenden Fall verlangte ein Insolvenzverwalter eines Unternehmens vom Geschäftsführer die Rückzahlung von ca. EUR 3 Mio., die der Geschäftsführer nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit im Rahmen eines Cash-Pools an die Muttergesellschaft abgeführt hatte. Die Klage des Insolvenzverwalters hatte sowohl vor dem Landgericht als auch Oberlandesgericht keinen Erfolg. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil des Oberlandesgerichts auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurück.  

In seinem Urteil stellte der Bundesgerichtshof zunächst klar, dass Zahlungsunfähigkeit im Sinne des § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO nicht durch die Aufstellung einer Liquiditätsbilanz erfolgen muss, sondern auch mit anderen Mitteln dargelegt werden kann. 

Zur Begründung knüpft der Bundesgerichtshof an sein Urteil vom 28. April 2022 an (IX ZR 48/21), wonach es für zulässig erachtet wird, die Zahlungsunfähigkeit durch einen Liquiditätsstatus auf den Stichtag in Verbindung mit einem Finanzplan für die auf den Stichtag folgenden drei Wochen, in dem tagesgenau Einzahlungen und Auszahlungen gegenübergestellt werden, darzutun.

Nach der Auffassung des Bundesgerichtshofs spreche auch nichts dagegen, zur Darlegung der Zahlungsunfähigkeit mehrere tagesgenaue Liquiditätsstatus in aussagekräftiger Anzahl aufzustellen, in denen ausgehend von dem – am Stichtag eine erhebliche Unterdeckung ausweisenden – Status an keinem der im Prognosezeitraum liegenden bilanzierten Tag die Liquiditätslücke in relevanter Weise geschlossen werden kann.

In seiner Entscheidung ließ der Bundesgerichtshof vier Liquiditätsstatus innerhalb eines dreiwöchigen Zeitraums ausreichen. 

Folgen und Ausblick

Die neue Methode des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs zur Ermittlung bzw. Feststellung der Zahlungsunfähigkeit, die erstmalig auch statische Liquiditätsdaten zulässt, führt in der Regel dazu, dass früher als bei einer Liquiditätsbilanz eine Zahlungsunfähigkeit festzustellen sein wird. Denn ein stichtagsbezogener Liquiditätsstatus setzt lediglich die liquiden Mittel und fälligen Verbindlichkeiten eines bestimmten Stichtages zueinander ins Verhältnis. Eine zeitraumbezogene Betrachtung wie in der Liquiditätsbilanz wird hingegen nicht vorgenommen. 

Für Insolvenzverwalter führt die Entscheidung zu einer deutlichen Erleichterung bei der retrograden Ermittlung und Darlegung des Zeitpunktes der Zahlungsunfähigkeit in einem Anfechtungsprozess gegen Vertragspartner oder Haftungsprozess gegen Geschäftsleiter.

Aus Sicht von Geschäftsleitern bringt die Entscheidung zuvorderst erhebliche Haftungsrisiken mit sich, sofern sich im Nachhinein herausstellt, dass man bereits zum ersten Stichtag Insolvenzantrag hätte stellen müssen (Insolvenzverschleppung). Neben strafrechtlichen Konsequenzen drohen in einem solchen Fall insbesondere zivilrechtliche Haftungsfolgen, sofern nach dem ersten Stichtag noch erhebliche Auszahlungen getätigt wurden. Für diese Auszahlungen haftet der Geschäftsleiter gem. § 15b InsO persönlich. Auch wenn die Entscheidung zur alten Anspruchsgrundlage des § 64 GmbHG aF. erfolgte, ist anzunehmen, dass sie auch im Bereich des § 15b InsO Anwendung findet.

Aus Geschäftsleitersicht und Beratersicht krisenbetroffener Unternehmen ist daher zwingend an der Erstellung einer (rollierenden) Liquiditätsbilanz festzuhalten, um in einem potentiellen Haftungsprozess wegen Insolvenzverschleppung den Gegenbeweis gegen den – nunmehr erleichterten – Nachweis der Zahlungsunfähigkeit durch den Insolvenzverwalter antreten zu können.

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* This article is current as of the date of its publication and does not necessarily reflect the present state of the law or relevant regulation.

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