Auswirkungen des EuGH-Urteils vom 29. September 2022 auf die Gruppenversicherung in Deutschland
Veröffentlicht am 7th Oktober 2025
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat mit Urteil vom 9. September 2022 (EuGH C-633/20) entschieden, dass auch die Gruppenspitze als Versicherungsnehmer einer Gruppenversicherung Versicherungsvermittler sein kann, sofern sie Dritte gegen Vergütung unter ihrem Versicherungsvertrag mitversichert.

Bedeutung der Gruppenversicherung
In Deutschland hat sich die Gruppenversicherung zu einem wichtigen Vertriebsweg für Versicherungen entwickelt. Sie hat innerhalb der letzten Jahrzehnte eine große wirtschaftliche Bedeutung erlangt. Rund ein Drittel aller Produkte der betrieblichen Altersvorsorge werden in Deutschland als Gruppenversicherung abgeschlossen. Die Gruppenversicherung hingegen setzt stets eine Dreieckskonstellation voraus, bei der im Ergebnis mehreren Personen Versicherungsschutz gewährt werden soll. Ein (echter) Gruppenversicherungsvertrag ist ein „einheitlicher, eine Personengruppe […] erfassender Versicherungsvertrag, in den das einzelne Gruppenmitglied automatisch oder durch – ggf. annahmebedürftige – Anmeldung, immer aber nur im Hinblick auf seine Gruppenzugehörigkeit einbezogen wird, und durch den entweder für Mitglieder der Gruppe oder für den Versicherungsnehmern, auf jeden Fall aber gegen ein einheitliches, in den Gruppenmitgliedern sich verwirklichendes Risiko Versicherungsschutz mit der Maßgabe genommen wird, daß die Versicherungsleistung in Bezug auf jedes Gruppenmitglied gesondert zu erbringen ist.“ (Millauer). Gruppenversicherungen werden für viele verschiedene Personenkreise angeboten, beispielsweise für Mitglieder von Vereinen, insbesondere Sportvereinen, für Teilnehmer an Veranstaltungen, für Kreditnehmer von Banken (Restschuld-Gruppenversicherung), für Berufstätige von Berufsverbänden, für Spediteure (Transportversicherung) oder auch als Reiserücktrittsversicherung für Kreditkarteninhaber. Ihre große praktische Bedeutung ergibt sich aus verschiedenen wirtschaftlichen Vorteilen. Dazu gehört, dass Versicherer neue Absatzmärkte durch neue Vertriebswege erschließen können. Versicherungsnehmer können durch geringere Verwaltungskosten die Höhe der Versicherungsprämie reduzieren. Unternehmen können ihr eigenes Produktportfolio durch eine Gruppenversicherung ergänzen und damit eigene Leistungen aufwerten, wie etwa im Fall einer Reiserücktrittskostenversicherung bei Nutzung einer Kreditkarte. Das Geschäftsmodell der „Embedded Insurance“ basiert teilweise auf Gruppenversicherungsmodellen und erleichtert die sehr schnelle Markteinführung von Versicherungslösungen.
Bisherige Rechtslage
Als Versicherungsvermittler gilt, wer gewerbsmäßig Versicherungsverträge oder deren Abschluss vermittelt. Wer in Deutschland als Versicherungsvermittler tätig sein möchte, benötigt hierfür grundsätzlich eine Erlaubnis. Bislang konnte der Versicherungsnehmer eines Vertrages nach deutschem Recht nicht gleichzeitig Vermittler des eigenen Vertrages sein. Diese Regelung wurde oft im Rahmen von echten Gruppenversicherungsverträgen umgangen, um entgeltlich Versicherungsschutz zu vermitteln, ohne eine Versicherungsvermittlungserlaubnis zu haben. Eine sogenannte echte Gruppenversicherung ist ein Versicherungsvertrag zwischen der Gruppenspitze als Versicherungsnehmer und dem Versicherer. Die Gruppenspitze kann weitere Personen als versicherte Personen unter der Gruppenversicherung mitversichern, denen dann selbst Rechte aus dem Versicherungsvertrag zustehen.
EuGH-Urteil vom 29. September 2022 (EuGH C-633/20)
Das Urteil EuGH vom 29. September 2022 hat einen Paradigmenwechsel im Verständnis der versicherungsrechtlichen Einordnung von Gruppenversicherungen in Deutschland ausgelöst. Mit seiner Entscheidung hat der EuGH klargestellt, dass unter die Begriffe „Versicherungsvermittler“ und „Versicherungsvertreiber“ im Sinne der Richtlinie (EU) 2016/97 (Insurance Distribution Directive, “IDD“) auch juristische Personen fallen, die freiwillige Mitgliedschaften in zuvor abgeschlossenen Gruppenversicherungen anbieten und dafür eine Vergütung erhalten. Diese Entscheidung hat weitreichende Konsequenzen für die Vertriebspraxis bei Gruppenversicherungen und die rechtliche Einordnung von Gruppenspitzen.
Ausgangssachverhalt und Verfahrensgang
Im zugrunde liegenden Fall hatte der Bundesverband der Verbraucherzentralen und Verbraucherverbände erfolgreich eine wettbewerbsrechtliche Unterlassungsklage gegen die Beklagte angestrebt, die Versicherungsnehmerin einer Auslandskranken- und Unfallversicherung war. Die Beklagte vertrieb kostenpflichtige Mitgliedschaften, die Ansprüche auf Leistungen aus einer Gruppenversicherung beinhalteten. Da die Beklagte nicht als Versicherungsvermittler zugelassen war, stellte sich die Frage, ob sie für diese Tätigkeit einer Erlaubnis bedurfte. Der Bundesgerichtshof (BGH) legte die Frage dem EuGH vor, der entschied, dass die Tätigkeit der Beklagten als Versicherungsvermittlung anzusehen sei.
Begründung des EuGH
Die Entscheidung des EuGH drehte sich um zwei wesentliche Aspekte: die Vergütung und die Vermittlungstätigkeit. Für die Mitgliedschaft zahlten die Kunden einen Beitrag an die Gruppenspitze, die damit ihr eigenes wirtschaftliches Interesse verfolgte. Aufgrund dieses Interesses besteht die Möglichkeit, dass die Gruppenmitglieder in großer Zahl freiwillig beitreten. Laut dem EuGH ist die Tätigkeit der Gruppenspitze als "andere Vorbereitungsarbeiten" im weitesten Sinne zu betrachten und erfüllt somit die Tatbestandsmerkmale der Versicherungsvermittlung.
Bewertung
Offene Punkte
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) sorgt für faire Wettbewerbsbedingungen und verhindert die gezielte Umgehung der strengen IDD-Vorgaben. Noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ob dieses Urteil auch auf Sachverhalte im unternehmerischen Verkehr (B2B) anwendbar ist. Der EuGH legte in seiner Argumentation den Schwerpunkt auf Aspekte des Verbraucherschutzes, was eine Einschränkung auf Verbrauchergeschäfte nahelegt. Die IDD nennt jedoch den Schutz der Kundinnen und Kunden, sodass von einem erweiterten Begriffsverständnis auszugehen ist.
Sichtweise der Aufsichtsbehörden
Die BaFin und die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) haben am 25. Juli 2023 eine gemeinsame Aufsichtsmitteilung veröffentlicht, die praktische Hinweise zur Erlaubnispflicht der Gruppenspitze gibt. Die Aufsichtsmitteilung enthält Einordnungskriterien wie Entgeltlichkeit, freiwilliger Beitritt und das Recht auf Versicherungsleistungen gegenüber dem Versicherungsunternehmen. Die Frage der Vergütung ist neben der Vermittlertätigkeit zwingende Voraussetzung für das Vorliegen einer Versicherungsvermittlung im Sinne der IDD. Der Begriff der Vergütung wird im Rahmen der IDD weit gefasst.
Praxishinweise und Ausblick
Das Urteil des EuGH hat für Gruppenspitzen in Deutschland zur Folge, dass die entgeltliche Vermittlung von Deckungsschutz an versicherte Personen unter ihrer Gruppenversicherung ab sofort einer Erlaubnis der zuständigen Industrie- und Handelskammer bedarf. Die Erlaubnispflicht der Gruppenspitze als Versicherungsvermittler führt zu weitreichenden Folgepflichten. Für die Erteilung dieser Erlaubnis müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden, darunter der Nachweis von Sachkenntnis und Zuverlässigkeit (vgl. § 34d Gewerbeordnung). Gemäß den geltenden Bestimmungen sind die Mitglieder der Gruppenspitze auch Beratungspflichten unterworfen. Aufgrund der nun strengeren Regulierung müssen Geschäftsmodelle möglicherweise angepasst oder gar eingestellt werden, da sie sich nicht mehr kostendeckend betreiben lassen.
Ausblick
Das EuGH-Urteil hat Auswirkungen auf den Gruppenversicherungsmarkt und führt zu Unstimmigkeiten mit vorhandenen nationalen Regelungen. Es herrscht Unsicherheit über die Rechtsfolgen, was zu vorschnellen Reaktionen führen könnte. Diese Unsicherheit sollte schnellstmöglich durch eine Gesetzesreform behoben werden, um das Institut der echten Gruppenversicherung im VVG zu normieren. Die deutsche Rechtsordnung kennt Versicherungsvermittler nur als Makler oder Vertreter, was die Umsetzung der EuGH-Entscheidung erschwert. Differenzierungen sind daher notwendig, um nicht pauschal alle Gruppenversicherungen als Versicherungsvermittlung zu behandeln und um die Interessen der Versicherten und die Gleichbehandlung aller Vermittler zu gewährleisten.