EuGH-Schlussanträge: Deutsches Mitbestimmungsgesetz mit dem Unionsrecht vereinbar

Veröffentlicht am 14th Jun 2017

 Der Sachverhalt

Gegenstand der Schlussanträge des Generalanwaltes vom 4. Mai 2017 in der Rechtssache C-566/15 (Konrad Erzberger gegen TUI AG) ist ein Ersuchen des Kammergerichts Berlin um Vorabentscheidung über die Auslegung des Diskriminierungsverbotes aus Art. 18 AEUV und den die Freizügigkeit der Arbeitnehmer betreffenden Art. 45 AEUV.

Der vor dem Kammergericht Berlin geführte Rechtsstreit zwischen dem Anteilseigner Konrad Erzberger und dem Reisekonzern der TUI AG betrifft die Frage der korrekten Zusammensetzung des Aufsichtsrats. Die TUI Gruppe mit Sitz in Berlin beschäftigt in Deutschland etwas mehr als 10 000 Personen und in Mitgliedstaaten der Europäischen Union etwas weniger als 40 000 Personen. Unselbstständige Niederlassungen oder Betriebe in einem anderen Mitgliedstaat als dem Sitzstaat existieren nicht. Konrad Erzberger ist der Ansicht, der Aufsichtsrat der TUI AG dürfe nur aus Mitgliedern bestehen, die die Anteilseigner der Gesellschaft bestimmt hätten. Das deutsche Mitbestimmungsgesetz dürfe nicht angewendet werden. Es verstoße gegen Unionsrecht, indem es vorsehe, dass nur die in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmer des Konzerns die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat wählen könnten und wählbar seien.

Das erstinstanzlich angerufene Landgericht Berlin verneinte mit Beschluss vom 12. Mai 2015 einen Verstoß des deutschen Mitbestimmungsgesetzes gegen das Unionsrecht. Das Beschwerdeverfahren vor dem Kammergericht Berlin ist derzeit ausgesetzt.

Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 16. Oktober 2015 – 14 W 89/15) hat dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist es mit Artikel 18 AEUV (Diskriminierungsverbot) und Art. 45 AEUV (Freizügigkeit der Arbeitnehmer) vereinbar, dass ein Mitgliedstaat das aktive und passive Wahlrecht für die Vertreter der Arbeitnehmer in das Aufsichtsorgan eines Unternehmens nur solchen Arbeitnehmern einräumt, die in Betrieben des Unternehmens oder in Konzernunternehmen im Inland beschäftigt sind?

Schlussanträge

Nach den Schlussanträgen des Generalanwaltes liegt ein Verstoß gegen Unionsrecht nicht vor.

Art. 45 AEUV sei auf die im Ausland beschäftigten Arbeitnehmer schon nicht anwendbar. Der Anwendungsbereich sei nur eröffnet, wenn die Arbeitnehmer von dem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen oder dies beabsichtigt sei. Dies sei vorliegend zu verneinen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit gehören zu der Gruppe von Arbeitnehmern nämlich viele Personen, die Staatsangehörige oder Einwohner des Mitgliedstaats sind, in dem die Tochtergesellschaft ihren Sitz hat und wo sie ihrer Beschäftigung nachgehen. Art. 45 AEUV gewährleistet in erster Linie das Recht, auf dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaates ebenso behandelt zu werden wie die inländischen Arbeitnehmer. Zum anderen untersagt diese Vorschrift es dem Herkunftsmitgliedstaat, das Recht seiner Staatsangehörigen, das Hoheitsgebiet zur Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat zu verlassen, ungerechtfertigt einzuschränken. Eine Anwendung des Art. 45 AEUV auf den vorliegenden Sachverhalt würde eine erhebliche Ausweitung des Anwendungsbereiches bedeuten, eine solche sei nicht gerechtfertigt. Insbesondere ändere der grenzübergreifende Charakter der Beziehungen innerhalb einer Unternehmensgruppe nichts daran, dass in Wirklichkeit ein rein innerstaatlicher Sachverhalt vorliege. Aus diesem Grund scheidet eine Anwendbarkeit von Art. 18 AEUV ebenfalls aus.

Für grundsätzlich anwendbar hält der Generalanwalt die Arbeitnehmerfreizügigkeit jedoch auf die im Inland beschäftigten Arbeitnehmer, die Deutschland verlassen oder verlassen wollen, um eine Stelle bei einer dem Konzern angehörenden Tochtergesellschaft anzutreten. Eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch das deutsche Mitbestimmungsgesetz sei jedoch zu verneinen. Art. 45 AEUV gewähre nicht das Recht, die im Herkunftsstaat bestehenden Arbeitsbedingungen in einen anderen Mitgliedstaat zu „exportieren“. Ein Wanderarbeitnehmer habe allenfalls Anspruch auf Gleichbehandlung mit den inländischen Arbeitnehmern im Aufnahmemitgliedstaat. Ein Arbeitnehmer, der Deutschland verlässt, um in einem anderen Mitgliedstaat eine wirtschaftliche Tätigkeit aufzunehmen, dürfe seine Mitwirkungsrechte nicht behalten. Ihm stünden Mitwirkungsrechte nur zu, sofern die dortige Regelung ihm solche Rechte gewährt. Dies gelte auch für den Fall, dass der Arbeitnehmer innerhalb einer Unternehmensgruppe den Arbeitsplatz wechselt. Es bestünde kein Unterschied zum Wechsel des Arbeitsplatzes zwischen zwei nicht miteinander verbundenen Gesellschaften mit Sitz in verschieden Mitgliedstaaten. Der grenzüberschreitende Charakter der Unternehmensgruppe ändere nichts daran, dass das Beschäftigungsverhältnis des Arbeitnehmers hauptsächlich durch die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates bestimmt wird, in dem die Beschäftigung ausgeübt wird.

Für den Fall, dass der Gerichtshof eine Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit annehmen sollte, wäre eine solche nach Ansicht des Generalanwaltes jedoch in jedem Fall gerechtfertigt. Eine Rechtfertigung ergebe sich zwar nicht aus dem Territorialprinzips, die Aufrechterhaltung der Mitbestimmungsregelungen, wie sie in Deutschland bestehen, sei jedoch durch das Ziel gerechtfertigt, die Mitwirkung der Arbeitnehmer in der Gesellschaft im Einklang mit den nationalen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Besonderheiten zu gewährleisten. Die vorliegende Regelung stünde auch in einem angemessenen Verhältnis zu diesem Ziel. Die Verhältnismäßigkeit sei insbesondere nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil ein Mitgliedstaat andere Schutzregelungen als ein anderer Mitgliedstaat erlassen hat. Im Übrigen weißt der Generalanwalt darauf hin, dass die außerhalb Deutschlands beschäftigten Arbeitnehmer nicht in den persönlichen Anwendungsbereich der deutschen Mitbestimmungsregelungen einbezogen werden können, ohne dass die grundlegenden Merkmale dieser Regelungen geändert werden müssten. Eine Übertragung der Verantwortlichkeit für die Organisation und die Durchführung der Wahlen von den Arbeitnehmern und den Gesellschaften des Konzerns auf die Leitung der deutschen Muttergesellschaft, würde den Gründen zuwiderlaufen auf denen das MitbestG beruhe.

Der Generalanwalt schlägt dem Gerichtshof folgende Antwort vor:

Die Art. 18 und 45 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie in einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen, wonach nur die bei den im Inland ansässigen Betrieben einer Gesellschaft oder Gesellschaften des Konzerns beschäftigten Arbeitnehmer bei den Wahlen der Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat dieser Gesellschaft über ein aktives oder passives Wahlrecht verfügen, nicht entgegenstehen.

Hinweise für die Praxis

Es spricht vieles dafür, dass der Gerichtshof den Schlussanträgen folgen wird. Zwar ist er an diese nicht gebunden. Es ist jedoch eine gewisse Tendenz in der Rechtsprechung zu beobachten, nachdem der Gerichtshof sich häufig anschließt. Eine Entscheidung wird im Juli 2017 erwartet.

Zu beachten ist, dass die Schlussanträge nicht den Fall betreffen, dass Arbeitnehmer in einem Betrieb oder einer unselbstständigen Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat als dem Sitzstaat der Gesellschaft beschäftigt sind, sodass abzuwarten ist wie diese Frage in Zukunft entschieden wird.

Die Frage, ob ausländische Arbeitnehmer bei den Schwellenwerten (insbesondere § 1 MitbestG) zu berücksichtigen sind, dürfte in der Folge ebenfalls zu verneinen sein. Das LG Frankfurt (Beschluss vom 15. Februar 2015 – 3-16 O 1/14) entschied, dass bei der Ermittlung für die Anwendung der Regeln über Unternehmensmitbestimmung die im Ausland beschäftigten Arbeitnehmer zu berücksichtigen sind. Das Beschwerdeverfahren vor dem OLG Frankfurt ist derzeit im Hinblick auf das vorliegende Verfahren vor dem EuGH ausgesetzt (Beschluss vom 17. Juni 2016 – 21 W 91/15), sodass auch hier mit einer Entscheidung im Sommer 2017 zu rechnen ist.

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